Erschienen am 3./4. Mai 2008
Mehr Zeit für alle /SZ vom 21. April 2008
Durch sachliche Information zum Pro und Contra einer verlängerten gemeinsamen Schulzeit, ermöglicht Tanjev Schultz dem Leser den Blick auf den aktuellen Stand der bildungs-politischen Diskussion. Diesen Blick möchte ich durch meine Erfahrungen als langjährige Grund- und Hauptschullehrerin erweitern.
Angst, Leistungsdruck, ungleiche Bildungschancen, Klagen von Schülern, Eltern, Lehrkräften sowohl an Grund- und Hauptschulen, als auch an Realschulen und Gymnasien sind meine konkreten Erfahrungen, die mich zur Gegnerin eines auf frühe Selektion ausgerichteten Schulsystems werden ließen. "Mehr Zeit für alle", in meinem Sinne als eine bildungs-politische Forderung nach längerer gemeinsamer Schulzeit verstanden, ist folglich Wasser auf meine Mühlen. Jedoch möchte ich diese Forderung noch weiter fassen.
Als Evaluatorin bin ich derzeit, über das eigene Schulumfeld hinaus, in einem Team an bayerischen Grund- und Hauptschulen unterwegs. Wo immer wir hinkommen, sehen wir, dass in Schulklassen mit durchschnittlich etwa 23 Schülern pro Klasse Maßnahmen zur Förderung der leistungsstarken wie der leistungsschwachen Schüler durch pädagogisch geschulte Förderlehrer alles in allem noch ein Tropfen auf den heißen Stein sind, die den Bedarf bei weitem nicht abdecken, und das nicht nur an den Brennpunktschulen.
Da ist die Schülerin (mit Downsyndrom) in einer Koooperationsklasse. Bisher wurde sie erfolgreich von einer ausgebildeten Integrationshelferin begleitet. Mit dem neuen Schuljahr wurden die Kosten begrenzt auf eine (billigere), nicht ausgebildete Betreuerin. Um die bewährte, dringend erforderliche qualifizierte Betreuung der Schülerin aufrechtzuerhalten, kommen derzeit ihre Eltern für den Differenzbetrag auf.
"Leider habe ich heute vom Schulamt die schlechte Nachricht erhalten, dass meine vier künftigen ersten Klassen auf drei Klassen zusammengelegt werden (müssen), Schülerzahlen 30, 30, 30. Toll und sehr pädagogisch!", lautet der Kommentar eines engagierten Schulleiters.
Dies nur zwei Beispiele, die zeigen, dass nicht pädagogisches Ermessen den Vorrang hat, sondern der "Rotstift", der Sparmaßnahmen diktiert. "Den Mangel verwalten", ist eine viel zitierte Klage der in der Schulaufsicht Verantwortlichen. Es ist abzusehen, dass Kinder schon in der Grundschule, die maßgeblich die Basis für den weiteren Lernerfolg legt, als Verlierer durch das Schulnetz fallen werden. Bei allem hohen Einsatz der Lehrkräfte, in Ermangelung individueller Hilfe durch zusätzliche Fachkräfte, können weder Stärken gefördert noch Schwächen ausreichend aufgefangen und ausgeglichen werden.
"Wir nehmen alle mit", dieser pädagogische Grundsatz, nach dem finnische Schulen zusätzlich zu den Lehrkräften die Kinder durch psychologisch, sozialpädagogisch ausgebildete, bezahlte Fachkräfte erfolgreich in ihren Stärken und Schwächen frühzeitig fördern, bleibt hierzulande weitgehend auf der Strecke.
So wichtig die bildungspolitischen Debatten über schulrelevante Themen sind, so zum Beispiel die Verlängerung der Grundschulzeit, vorrangig müssen wir uns die selbstkritische Frage stellen: "Was ist uns Bildung künftig wert?" Und sind wir bereit, endlich "mehr Zeit", bezahlte Zeit, in mehr Lehrer und kompetente Fachkräfte zu investieren? Mehr Zeit zum Wohle all unserer Kinder!