von Barbara Bittner, erschienen am 12.04.2010 SZ, München

Der Missbrauch an Schulen und das Wahrnehmen und Bewahren von Grenzen im Lehrerberuf - Erlebnisse einer Pädagogin

Eine Aufgabe in einer Deutsch-Arbeit: "Nenne Merkmale, die zu einem guten Gespräch gehören!" Die Schüler zählen auf: "Zuhören, Ausreden lassen, Verständnisfragen stellen...". Eine Schülerin beendet die Reihe der Stichpunkte: ,"Und auch einfach mal in den Arm genommen werden." Einfach in den Arm genommen werden: Ist das auch ein Merkmal für das gute Gespräch zwischen Schüler und Lehrer? Der sexuelle Missbrauch in Schulen hat eine Debatte über die Grenzen im Lehrerberuf ausgelöst, über das Haltgeben und Loslassen. "Darf ich bei Atemübungen einem Schüler überhaupt noch die Hand auf die Brust legen?", fragt ein Sportlehrer. Viele Kollegen sind verunsichert.

Gleich neben dem Friedhof gibt es einen Blumenladen. Dort arbeitet Monika, seit drei Jahren eine gelernte Floristin. Regelmäßig vor dem Friedhofsbesuch betritt ihre ehemalige Lehrerin den Laden. Für einen Augenblick stehen sie da, fest umarmt, Monika inzwischen zwei Kopf größer als die Lehrerin. "Wie geht es Dir?" Erinnerungen werden ausgetauscht. Am Ende der 6. Klasse schrieb Monika ihrer Lehrerin ein Zeugnis: "Wir sind fast immer aneinander gerumpelt. Aber wir haben uns immer wieder vertragen. Und ich möchte mich für mein flegelhaftes Benehmen bei Ihnen entschuldigen. Ich kann kaum glauben, dass dieses schöne Jahr so schnell vorbei ist."
Im Gefühl des Vertrautseins erlaubt sich die Lehrerin die Frage: "Und, Monika, was macht die Liebe?" "Ich lieb’ mich erst mal selbst", antwortet sie. Beide lachen. "Freu mich immer, wenn ich Sie sehe!" "Ich mich auch, alles Gute!"

Die dreizehnjährige Carina lebt seit zwei Jahren von der Mutter getrennt beim Vater. "Ich will sie nicht sehen", sagt sie, als sich die Mutter zur Sprechstunde angemeldet hat. Die Pause ist beendet, der Unterricht beginnt. Carinas Platz ist leer. "Wo ist Carina?" - "Die hat sich in der Toilette versteckt", antworten Mitschülerinnen. Dort also sitzt sie zitternd. Beruhigende Worte. Carina steht auf, geht auf die Lehrerin zu, umarmt sie, um sich festzuhalten und Trost zu finden. Es bedarf keiner Fragen und Erklärungen, die Lehrerin weiß um die traumatischen Erlebnisse mit der Mutter. Nach langem juristischen Ringen gibt die Mutter ihr Einverständnis, dass Carina mit Vater und Bruder ins Ausland ausreisen darf. Carina schreibt einen Abschiedsgruß: "Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung in der Schule und in den anderen Sachen, in denen Sie unserer Familie geholfen haben. Sie waren nicht nur eine Lehrerin für mich, sondern auch eine Mutter. Ohne sie hätte ich nicht die Kraft gehabt, es so lange auszuhalten. Danke! Lots of love, Carina."


Selma lockt Jungs an, um sie, wenn sie Feuer gefangen haben, kaltschnäuzig abblitzen zu lassen. Was geht in ihr vor? Im Gespräch erzählt sie, dass es ihr nach langer Suche gelungen ist, den Vater zu finden, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie verabreden sich in einem Café. Doch der Vater kommt nicht. Auch an den darauf folgenden Tagen wartet Selma vergeblich. Dann plötzlich betritt der Vater angetrunken das Café. "Und er hat mich nicht erkannt" - die Worte ersticken in Weinen und Schluchzen. Die Lehrerin hält sie im Arm, bis sie sich langsam beruhigt. Die "Schläge"‘, die Selma an ihre Mitschüler austeilt, gelten einem anderen. Als sie es zugibt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.


Die Kinder einer dritten Klasse stürmen zum Morgenkreis. Grundschullehrerinnen kennen das: Wer schafft es, den Platz an der Hand der Lehrerin zu erobern? Ganz anders Laura. Nur zögernd kommt sie in die Mitte, und es ist ihr anzusehen, wie viel Überwindung es sie kostet, für einen Moment rechts und links von ihr die Hand eines Mitschülers zu ergreifen. Der Lehrerin gegenüber verhält sie sich scheu. Zum Elternabend erscheint die Mutter. Lautstark empört sie sich über die Lehrerin, die Privates in der Klasse erzähle. "Ja und?", protestieren andere. "Die Schüler haben in die Schule zu kommen, zu lernen und sonst gar nichts", entgegnet die Mutter. Im Verlauf des Schuljahres verliert Laura langsam ihre Scheu.

Jahre später kommt in der Pausenhalle eine sportliche Frau auf die Lehrerin zu. Es ist Laura. Sie strahlt Zufriedenheit und Stolz aus, als sie sagt: "Ich hab es geschafft, ich habe mich von meiner Mutter gelöst, lebe jetzt in einer WG und spiele in einer Basketball-Mannschaft."


Fachlehrerstunde in einer 8. Klasse: Markus mobbt seine Mitschüler durch bissige Bemerkungen. Ratlosigkeit unter den Kollegen. Kurz vor Unterrichtsschluss teilt die Lehrerin ein Merkblatt aus. Als sie einer etwas molligen Schülerin das Blatt übergibt, kommentiert Markus "Da, du fette Sau!" Im Affekt holt die Lehrerin aus und gibt ihm eine Ohrfeige. Anerkennendes Raunen in der Klasse. Doch die Lehrerin ist geschockt, entschuldigt sich vor der Klasse bei Markus. Zu ihrem Erstaunen signalisiert der mit einem Hauch von Einsicht im Blick, dass er die Entschuldigung annimmt.

Von massiven Selbstvorwürfen geplagt, telefoniert die Lehrerin mit der alleinerziehenden Mutter. Die zeigt Verständnis. Am nächsten Tag, die Lehrerin hat Pausenaufsicht, kommt Markus auf sie zu und gibt ihr ein Bonbon. Ein Jahr später, Markus hat die Schule verlassen, spricht sie ein Schüler an: "Ich habe gestern den Markus in der S-Bahn getroffen, ich soll Ihnen einen Gruß bestellen."


Niklas beschränkt die Kommunikation auf ein Minimum. Was seine Kameraden offensichtlich mögen: dass die Lehrerin ihnen ab und zu aufmunternd über die Schultern streicht. Niklas braucht das nicht. Zielstrebig arbeitet er auf einen guten Abschluss hin. Als Bester besteht er den Abschluss. Er wird zur Ehrung ins Schulamt geladen und lässt sie mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen. Letzter Schultag, die Zeugnisse sind verteilt. Bewegender Abschied an der Klassenzimmertür, die Mädels mit Umarmung, die Jungs mit kräftigem Händeschütteln. Und Niklas: Er geht auf die Lehrerin zu, reicht die Hand, mit der Linken klopft er ihr kurz auf die Schulter. "Danke!", sagt er und geht festen Schrittes in einen neuen Lebensabschnitt.


Das Abschiedsgeschenk einer Mutter ist ein Bildband über Irland, versehen mit einer Widmung: "...ganz herzlichen Dank für die liebevolle Zuwendung, die Sie Philipp schenkten. Wir finden, dass er einen deutlichen Schritt nach vorne gemacht hat. Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüße Sie ganz herzlich. Bitte, kämpfen Sie weiter für unsere Kinder." Dem Buch hat sie noch eine handgeschriebene Karte beigelegt, mit einem Zitat von Mutter Teresa: "Wir können nicht alle großartige Dinge tun, aber wir können die kleinen Dinge in großartiger Liebe tun."


Liebe: ein großes Wort. Und wie missverständlich in Zeiten, in denen sexueller Missbrauch die Schlagzeilen bestimmt. Wie viel Nähe und wie viel Distanz sind in der Schule notwendig? Wie viel Gefühl und wie viel Gefühlskälte dürfen oder müssen sich Lehrer erlauben? Der Lehrberuf ist notwendigerweise ein Beziehungsberuf. Die Beziehungen, die Lehrer zu ihren Schülern aufbauen, sind oft sehr nachhaltig. Für jeden Pädagogen ist das eine große Verantwortung - aber auch eine Quelle für Freude und Erfüllung im Beruf.

Die Autorin ist Lehrerin, Schulbuchautorin und aktiv in der Lehrerfortbildung. Die Namen der Schüler wurden teilweise verfremdet.